Trotz rasch wachsendem Wissen: "Disruption" in Forschung und Technik nimmt ab

Eine Studie von US-Wissenschaftlern zeigt, dass die Zahl disruptiver Veröffentlichungen und Patente in den letzten fünfzig Jahren stark zurückgegangen ist.

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(Bild: Black Jack/Shutterstock.com)

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Dass technischer und wissenschaftlicher Fortschritt sich immer weiter beschleunigen, ist ein weit verbreiteter Mythos – der vor allem von Anhängern der Singularity-Hypothese wie etwa Ray Kurzweil verbreitet worden ist. Obwohl die diesem Mythos zugrunde liegenden Daten von Historikern und Ökonomen bereits seit Jahren kritisiert werden, hält er sich hartnäckig. Eine umfangreiche Datenanalyse von US-Ökonomen zeigt nun, dass es "zunehmend unwahrscheinlicher wird", dass Paper oder Patente, Wissenschaft und Technik "in eine neue Richtung lenken" – mit anderen Worten, dass der Fortschritt langsamer statt schneller wird.

Michael Park von der University of Minnesota und Kollegen haben für ihre Studie, die jetzt in "Nature" erschienen ist, 45 Millionen Paper und 3,5 Millionen Patente aus Datenbanken wie dem Web of Science, dem US-Patentamt, dem Online-Archiv der American Physical Society, Microsoft Academic Graph oder PubMed untersucht, die zwischen 1945 und 2010 veröffentlicht wurden.

Die kritische Frage dabei ist natürlich, wie man die "Brisanz" einer wissenschaftlichen Arbeit misst. Andere Big-Data-Analysen zum Fortschritt in spezifischen Wissensgebieten beispielsweise hatten aus den Abstracts der Paper Schlüsselbegriffe extrahiert und mehrere Begriffe in einem Paper als Verbindung der Begriffe in einem semantischen Netz gewertet. In diesem Modell lassen sich neue Entwicklungen als neu auftauchende Verbindungen zwischen Clustern von Begriffen beschreiben, die vorher nicht miteinander vernetzt waren.

Park und Kollegen arbeiten jedoch überhaupt nicht mit Schlüsselworten. Ihre Idee: Wenn eine Studie sehr bahnbrechend war, zitieren nachfolgende Forschungen weniger wahrscheinlich die Referenzen der Studie, sondern stattdessen die Studie selbst. Anhand der Zitationsdaten von 45 Millionen Papern berechneten die Forschenden daher ein Maß für die "Störwirkung" von Papern, den sogenannten "CD-Index", der zwischen -1 für die am wenigsten disruptive Arbeit bis +1 reicht. Der durchschnittliche CD-Index ist demnach zwischen 1945 und 2010 bei Forschungsmanuskripten um mehr als 90 Prozent und bei Patenten zwischen 1980 und 2010 um mehr als 78 Prozent zurückgegangen. Auch die Geschwindigkeit des Rückgangs ist rätselhaft: Die CD-Indizes fielen von 1945 bis 1970 steil ab, dann allmählich von den späten 1990er Jahren bis 2010.

Was die Ursache dieser Entwicklung angeht, tappen die Autoren aber im Dunkeln. Um zu prüfen, ob der Rückgang generell mit nachlassender Qualität wissenschaftlicher Veröffentlichungen zu tun haben könnte, analysierten die Forschenden Paper, die in qualitativ hochrangigen Zeitschriften erschienen. Aber auch dort zeigte sich der Rückgang im CD-Index.

"Unsere Analysen zeigen, dass dieser Trend wahrscheinlich nicht auf Veränderungen in der Zitierpraxis oder der Qualität der veröffentlichten Arbeiten zurückzuführen ist", schreiben die Autoren. "Vielmehr stellt der Rückgang eine substanzielle Verschiebung in Wissenschaft und Technologie dar, der die Besorgnis über eine Verlangsamung der innovativen Aktivität verstärkt. Wir führen diesen Trend zum Teil darauf zurück, dass sich Wissenschaftler und Erfinder auf ein engeres Spektrum an vorhandenem Wissen stützen". Die Konzentration auf ein eng begrenztes Wissensgebiet würde zwar "die eigene Karriere fördern", nicht aber notwendigerweise auch den wissenschaftlichen Fortschritt.

"Um disruptive Wissenschaft und Technologie zu fördern, könnten Wissenschaftler ermutigt werden, viel zu lesen und sich Zeit zu nehmen, um mit dem sich rasch erweiternden Wissensstand Schritt zu halten", schreiben Park und Kollegen weiter. "Die Universitäten könnten den Schwerpunkt nicht mehr auf Quantität legen, sondern die Qualität der Forschung stärker belohnen und vielleicht einjährige Sabbaticals stärker bezuschussen." Und auch Bundesbehörden könnten "Wissenschaftlern die Zeit geben, die sie brauchen, um aus dem Getümmel herauszutreten, sich gegen die 'publish or perish'-Kultur zu immunisieren und wirklich folgenreiche Arbeit zu leisten."

Fun Fact: Wirklich neu und innovativ sind diese Vorschläge nicht. Sie werden allerdings bisher nicht umgesetzt – weder in den USA, noch in Europa.

(wst)